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Georg Brentano und sein Park in Frankfurt-Rödelheim - eine
Familiengeschichte /
Kapitel VII.
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Das eine Bein blieb gelähmt, aber sie konnte sich mit einem Stock, an den Wänden oder Möbeln entlang tastend, in der Wohnung umhergehen. Die Treppe zog sie sich am Geländer hoch. Draußen musste sie geführt werden oder im Rollstuhl gefahren werden. Diese Hilfsdienste waren uns selbstverständlich, ohne das wir allzu großes Mitleid empfanden. Wahrscheinlich waren die Eltern darauf bedacht gewesen, denn was hätte es ihrem Kinde genützt, wenn es allzu sehr verwöhnt worden wäre. Sie konnte dann bei uns täglich das Mittagessen kochen. Auch verdiente sie sich Geld mit schönen Handarbeiten. Einmal hatte sie einen ganz großen Auftrag, mehrere Tischtücher mit komplizierter Bändchenarbeit für eine Aussteuer. Trotz dieses eingeschränkten Lebens habe ich sie niemals klagen gehört. Im extrem kalten Winter 1929 holte sie sich eine Lungenentzündung. Es waren damals so viele Menschen krank, so daß es lange dauerte bis unser Hausarzt kam. Sie wurde noch ins Krankenhaus nach Bockenheim gebracht, aber jede Hilfe kam zu spät. Sie war 23 Jahre alt als sie starb. Natürlich habe ich geweint, doch ich wunderte mich sehr über meine Schwester Elisabeth, die ich keine Träne vergießen sah. Ich konnte dies überhaupt nicht verstehen und nur deshalb habe ich ein einziges Mal in ihr Tagebuch geschaut, welches Elisabeth in unserem gemeinsamen Zimmer auf ihrem Sekretär hatte liegen lassen. Da stand nur der einzige Satz: ‚meine Eltern haben ihr ältestes Kind verloren’. |